Am 12. Juni 2025 wurde Elina Müller mit Glanzresultat zur Gemeinderatspräsidetin gewählt. In ihrer Antrittsrede geht sie auf den Wert der Demokratie ein:
Vielen Dank für euer Vertrauen. Dass ich für ein Jahr lang unser städtisches Parlament
repräsentieren und unsere Sitzungen leiten darf, ist mir eine grosse Ehre.
Ich danke allen, mit denen ich bis hierher ein Stück politischen Weges haben gehen können. Allen, mit denen ich gemeinsam etwas habe gestalten dürfen, allen, die mich mitgenommen und bestärkt haben. Ich danke sehr meiner tollen Fraktion. Ich danke meinen Eltern, die mir vorgelebt haben, gesellschaftlich
und politisch wach, empathisch und aktiv zu sein. Ich danke meinen Kindern, die mich immer mal wieder einen Abend zu der Sitzung gehen lassen. Und meinem Mann, der mir für diese Abende den Rücken frei hält.
Vor allem aber möchte ich heute allen Mitgliedern des Gemeinderates danken. Dafür, dass ihr euch mit allen möglichen Themen beschäftigt, euch eine Meinung dazu bildet und dann mit dieser auch in der Öffentlichkeit hin steht. Ihr müsst aushalten, dass euch hier ständig widersprochen wird, dass man sich manchmal nicht im Kompromiss findet, dass immer wieder auch Entscheidungen getroffen werden, die ihr nicht gut findet. Aber natürlich seid ihr nicht nur aus Pflichtbewusstsein hier, sondern genauso, weil es oft auch Spass macht.
Ich glaube ja, dass es euch ganz ähnlich geht wie mir: Dass ihr gerne mitredet und dort seid, wo entschieden wird. Wie grossartig ist die Grundidee der Demokratie, dass grundsätzlich alle mitbestimmen können und jede und jeder gleich viel gilt. Aber es ist alles andere als selbstverständlich, dass wir hier in einer stabilen Demokratie leben. Laut Demokratieindex der britischen Zeitschrift The Economist leben nur rund 46% der Weltbevölkerung in einer Demokratie. Sowohl historisch als auch geografisch gesehen sind Demokratien eher die Ausnahme als die Regel. Und in verschiedenen Ländern findet zurzeit eher ein Abbau als ein Ausbau von Demokratie statt.
Mit der Demokratie ist es ähnlich wie mit der Gesundheit, man realisiert oft erst dann wirklich, was man an ihr hat, wenn sie schon angegriffen ist. Aber während sich Gesundheit nur bis zu einem bestimmten Grad vor Unfall oder Krankheit schützen lässt, haben wir es bei der Demokratie selber in der Hand, sie zu erhalten. Wenn andererseits Demokratien einmal beschädigt sind oder noch gar nie etabliert werden konnten, ist es sehr schwierig, eine demokratische Gesellschaft aufzubauen. Beschädigte Demokratien führen zu mehr Korruption und in den schlimmsten Fällen zu so etwas wie dem Einsturz vom Bahnhofsdach in Novi Sad, welcher 16 Menschen das Leben kostete. Sie führen zu Regierungen wie jener in den USA, die per Dekret radikale Änderungen an Parlament und Bevölkerung vorbei durchdrückt. Je weiter weg ein Staat von der Demokratie ist, um so gefährlicher wird es für die, welche mitreden wollen.
Ich bewundere die Menschen, die sich an anderen Orten unter Gefahr für ihre Freiheit und ihre Gesundheit für Demokratie und für mehr Freiheit für alle einsetzen. Aber ich bin sehr froh, das ich das
nicht tun muss, dass ich keine Heldin sein muss. Bei uns ist es so viel einfacher. Und doch haben bei den letzten Gemeinderatswahlen nur 12% der Bevölkerung teilgenommen und darüber bestimmt, wer hier im Gemeinderat repräsentativ für die ganze Bevölkerung entscheiden soll. Weil mehr als die Hälfte kein
Stimmrecht hat und von den Wahlberechtigten nur 32 % wählen gingen. Darum eine Bitte an Sie alle: Wenn Sie dürfen, dann gehen Sie abstimmen und wählen! Lassen Sie nicht andere über sich bestimmen. Gerade hier in Kreuzlingen finde ich das besonders wichtig. Weil, wenn die Schweiz eine Willensnation ist, dann sind wir eine Willensgemeinde.
Als ich vor 40 Jahren knapp zweijährig nach Kreuzlingen gekommen bin, haben in der Stadt gut 16’000 Menschen gelebt, 7’000 weniger als heute. Fast ein Drittel der heutigen Wohnbevölkerung ist in den letzten 40 Jahren dazu gekommen. Wir sind eine Stadt, die sich fortlaufend neu zusammen findet, mit Menschen aus allen Teilen der Schweiz und der Welt. Die Menschen entscheiden sich, hier zu leben und ihre Kinder gross zu ziehen, weil es ein guter Ort zum Leben ist.
Nochmals 40 Jahre früher, also vor 80 Jahren, haben etwa 9’500 Menschen in Kreuzlingen gelebt. Zu dieser Zeit ist der der zweite Weltkrieg zu Ende gegangen und mit ihm auch die Diktatur direkt neben Kreuzlingen. Viele sind in den Jahren davor an der Grenze zu dieser Diktatur zurückgewiesen und in den sicheren Tod geschickt worden. Meine Wahlgrossmutter hat als Jugendliche noch rechtzeitig aus Deutschland fliehen können und hat hier in Kreuzlingen eine neue Heimat gefunden. Sie hat sich später dann sehr für Menschenrechte und für Geflüchtete eingesetzt. Mir hat das grossen Eindruck gemacht.
Ich freue mich darum sehr, dass wir nach der heutigen Sitzung zur Wahlfeier im Café AGATHU zu Gast sein dürfen, wo Geflüchteten menschlich begegnet wird, auch wenn viele von ihnen nicht lange in
Kreuzlingen bleiben können.
Zuletzt muss ich natürlich noch etwas zu den Bildern sagen, die hinter mir hängen. Ich habe aus dem Fundus der Stadt für mein Präsidiumsjahr zwei Bilder des 2023 verstorbenen Künstler Christian Lippuner ausgewählt, eine Schenkung von Roswitha Lippuner an die Stadt. In seiner Kunst hat Christian Lippuner versucht, so hat er es gesagt, die Interaktion zwischen Mensch, Raum und Zeit sichtbar zu machen.
Ich finde, das Bild hier, das keinen Titel trägt, passt mit seiner vielschichtigen, verwobenen Struktur sehr gut in den Gemeinderatssaal. Der Titel des zweiten Bildes, «Zersetzung von Schönheit», kann uns in diesem Jahr mahnende Erinnerung daran sein,uns gegen die Zersetzung der Demokratie einzusetzen.
In diesem Sinne: Machen wir weiter.
Elina Müller